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Internationales
Lyriktreffen Münster
Hier treffen sich Poesie und Pathos!
Zum Lyrikertreffen 2022 (externe Website) und seiner kompletten Historie gelangen Sie hier:
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Die Sammlung
10 Takes on Pathos
Zehn Dichterinnen und Dichter, Übersetzerinnen und Übersetzer gaben Statements zu ihrem persönlichen Verhältnis zu Pathos ab. Videobotschaften und Audioaufnahmen sind zu einer pathetischen Bestandsaufnahme herangewachsen.
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Pathos per Post
Pathosgalerie
Wir sammeln Pathos! Acht Pathos-Gedichte, sechs Pathos-Splitter und eine grafische Übersetzung waren in den letzten Monaten per Postkarte unterwegs durch die Stadt und haben zum lyrischen Dialog aufgerufen.
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Live-Workshop
Pathos übersetzen!
Schon im Vorfeld haben sich die Teilnehmenden des Lyriktreffens mit der Übersetzung von Pathos auseinandergesetzt. „Pathos übersetzen!“ versammelt hier im Nachklang des Lyrikertreffens die entstandenen Impulse und Statements. Für die tägliche Dosis Poesie!
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Internationales Lyriktreffen Münster 2022

Hier herrscht das reine PATHOS!

Bis zum nächsten Lyriktreffen sorgen drei digitale Sammlungen für die nötige Dosis Poesie! Beim Internationalen Lyrikertreffen 2022 wurde das Verhältnis von Pathos und Lyrik intensiv unter die Lupe genommen. Gemeinsam sind Lyrikerinnen und Lyriker sowie Münsteranerinnen und Münsteraner auf Spurensuche gegangen.

Daraus entstanden ist die Sammlung 10 Takes on Pathos. Zehn Dichterinnen und Dichter, Übersetzerinnen und Übersetzer gaben Statements zu ihrem persönlichen Verhältnis zu Pathos ab. Videobotschaften und Audioaufnahmen sind zu einer pathetischen Bestandsaufnahme herangewachsen. Acht Pathos-Postkarten waren außerdem durch die Stadt unterwegs und haben zum lyrischen Dialog aufgerufen. Eine Auswahl aus den zahlreichen Einsendungen von Lieblings-Pathos- oder Antipathos-Gedichten ist in der Pathosgalerie zu finden. Die Sammlung Pathos übersetzen! gibt Impulse zum Thema Pathos und Übersetzung, die in einem Live-Workshop während des Lyrikertreffens 2022 entstanden sind.

Das Pathosarchiv

 

Bei einem Thema sind sich deutschsprachige Kritikerinnen und Kritiker erstaunlich einig: Sobald sie Pathos in der Dichtung wittern, schlagen sie Alarm. Ergriffenheit, feierliche Leidenschaft, ein (über)groß ausgedrücktes Gefühl: All das, was hinter dem griechischen Ausdruck páthos stecken mag, scheint nicht so leicht verträglich zu sein.

Wie pathosverträglich ist eigentlich die deutsche Sprache? Aus welchen Gründen weckt Pathos in deutschen Ohren oft Misstrauen und Unmut? Lässt sich die richtige Dosis Pathos bestimmen?

In poetischen Appetizern möchten wir Dichterinnen und Dichter zusammenbringen und dabei möglichst viele unterschiedliche, auch experimentelle Pathos-Positionen ins Feld holen. Gestartet wird mit einer Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Lyrik und Pathos heute. Dichterinnen und Dichter teilen in der Sammlung 10 Takes on Pathos kurze Statements in Audio- und Videobotschaften.

Die Statements werden von einer Postkartenaktion begleitet. Pathos-Gedichte finden den Weg in die heimischen Briefkästen, begleitet von der Bitte, selbst Pathos- oder Antipathos-Gedichte zurückzuschicken. Die Pathosgalerie versammelt eine Auswahl der Einsendungen.

Einen Schwerpunkt des Lyrikertreffens bildet außerdem die Übersetzung von Pathos. Neigen deutschsprachige Übersetzerinnen und Übersetzer eher dazu, pathetische Gedichte zurück auf die Erde zu holen? Und werden vermeintlich nüchterne deutschsprachige Gedichte von ihren Übersetzenden im Ton eher angehoben? Impulse zum Thema liefert die Sammlung Pathos übersetzen!

 

10 Takes on Pathos

Nora Gomringer

Take 1

Ulrike Draesner

Take 2
© Villa Massimo | Foto Alberto Novelli

Uljana Wolf

Take 3

Christian Filips

Take 4

Hans Thill

Take 5

Michael Ebmeyer

Take 6

Dagmara Kraus

Take 7

VERSATORIUM

Take 8

Sam Zamrik

Take 9

Kerstin Preiwuß

Take 10

Pathos

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„Die Frühlingsfeier“ | Friedrich Gottlieb Klopstock (Ausschnitt)

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Nora Gomringer wurde 1980 in Neunkirchen/Saar geboren, hat Amerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und leitet seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. Sie ist weltweit als Autorin, Dozentin und Performerin unterwegs, gestaltete von 2001 bis 2006 die Poetry-Slam-Szene aktiv mit und wurde für ihre Lyrik und ihre Texte mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – darunter 2015 der Ingeborg-Bachmann-Preis.

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Ulrike Draesner

über „Metten“ | Louise Glück

Ulrike Draesner setzt sich für uns die Pathos-Brille auf und erzählt eindringlich, wodurch der Pathosverdacht in Louise Glücks Gedicht Metten getriggert wurde – und wie Übersetzung Angst vor Pathos zu überwinden vermag.

                               

Ulrike Draesner ist 1962 in München geboren und lebt in Berlin und Leipzig. Sie ist Professorin für Deutsche Literatur und Erasmus-Koordinatorin am deutschen Literaturinstitut Leipzig, schreibt Lyrik und Prosa und übersetzt aus dem Englischen – unter anderem die Gedichte der Nobelpreisträgerin Louise Glück. 

Uljana Wolf, Foto © Villa Massimo Foto Alber to Novelli© Villa Massimo | Foto Alberto Novelli
Uljana Wolf | © Villa Massimo, Alberto Novelli

„O Nacht“  | Gottfried Benn

 

Lyrikerin Uljana Wolf spricht über das Gedicht „O Nacht“ von Gottfried Benn und wie es sie zu einem eigenen Werk inspiriert hat.

                               

Uljana Wolf wurde 1979 in Berlin geboren. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft und debütierte 2005 mit dem Gedichtband „kochanie ich habe brot gekauft“, für den sie als bisher jüngste Autorin mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Neben dem Verfassen eigener Lyrik ist sie als Übersetzerin aus dem amerikanischen Englisch tätig. Unter den zahlreichen Auszeichnungen ist auch zweimal der Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie für ihre Übersetzungsleistung. Mit ihren zwei Töchtern und ihrem Mann lebt sie in Berlin und New York.

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Christian Filips

Der hohe Ton 

Aurélie Maurin, künstlerische Leiterin des Lyrikertreffens Münster, fragt den Lyriker Christians Filips: „Glauben Sie an den hohen Ton in der Poesie?“

 

.                                 

Christian Filips wurde 1981 in Osthofen geboren, ist Schriftsteller, Musikdramaturg und Regisseur. Er ist Mitherausgeber von roughbooks, einer Reihe für zeitgenössische Poesie, übersetzt aus dem Englischen, Italienischen und Niederländischen und versucht das Pathos sowohl mittels seiner Gedichte als auch seiner Übersetzungen in die deutsche Lyriksprache zurückzuholen und wiederzubeleben.

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Hans Thill

Pathos

Der Lyriker und Übersetzer Hans Thill setzt sich wie Ulrike Draesner eine Pathos-Brille auf – aber sie ist ganz anders: Von welcher Insel ist das Pathos von Hans Thill wohl gekommen?

 

.                        

Hans Thill wurde 1954 in Baden-Baden geboren. Der Lyriker und Übersetzer lebt in Heidelberg. Er ist Mitbegründer des Verlags Das Wunderhorn sowie Leiter des Künstlerhauses Edenkoben. Er hat unter anderem die großen französischen Dichterstimmen übersetzt, viele davon unter Pathosverdacht, und leitet die Übersetzungswerkstatt „Poesie der Nachbarn“ in Edenkoben.

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Michael Ebmeyer

über „Página blanca“ / „Weißes Blatt“ | Humberto Quino

Autor Michael Ebmeyer möchte schweißgebadet eine Lanze für Pathos und Ironie zugleich brechen. Dazu feiert er das Gedicht „Página blanca“ / „Weißes Blatt“ des bolivianischen Lyrikers Humberto Quino.

 

                                        

Michael Ebmeyer wurde 1973 in Bonn geboren. Der Schriftsteller und Übersetzer veröffentlicht vor allem Prosa (Romane, Erzählungen, Sachbücher), aber immer mal wieder auch Lyrik – etwa seine Texte für die Gruppe Fön oder seine „Vierzeiler der Woche“ im Online-Kulturmagazin „TITEL“. Unlängst hat er mehrere Lyrikbände lateinamerikanischer Dichter*innen für hochroth Heidelberg übersetzt. Darunter eine Auswahl von Gedichten Humberto Quinos, die unter dem Titel „Jemand anders sein und es nicht wissen“ im Herbst 2021 erscheint.

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Dagmara Kraus

Dagmara Kraus: „Pathétique pour 1500 tracteurs“ / „Pathetisches für 1.500 Traktoren“

Das Video schließt mit einem Zitat von Giulia Sissa: „La rage et le courage aussi sont un cheval plein d`èlan“ / „Die Wut und auch der Mut sind ein Pferd voller Elan.“

 

                                    

Dagmara Kraus wurde 1981 in Wroclaw (Polen) geboren. Die Lyrikerin lebt in Straßburg und Berlin, übersetzt aus dem Polnischen und Französischen und oszilliert zwischen vielen Sprachtraditionen. Sie spielt offenkundig – in ihren Übersetzungen wie in der Dichtung – mit den Variationen der Pathosempfindlichkeiten zwischen den Sprachen und Kulturen.

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VERSATORIUM

„Die Dattel – Übersetzen nach einem Interview von Stephen Ross mit Charles Bernstein, erschienen im Wolf Magazine #28 (Juli 2013)“

Das zu übersetzende Interview als Text (PDF)
Anstelle einer Beschreibung zum Video fügt VERSATORIUM noch eine Übersetzung hinzu:
„The Date / die Dattel
This Poem Intentionally Left Blank. / Diese Beschreibung ist absichtlich gegessen.“

 

                                     

VERSATORIUM ist ein Verein für Gedichte und Übersetzen, in dem junge Übersetzerinnen und Übersetzer, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler gemeinsam literarisch übersetzen und den Übersetzungsprozess theoretisch reflektieren. Das Unvollständige und nicht Abgeschlossene ist für die Arbeit von VERSATORIUM besonders ergiebig. 2011 und 2012 widmete sich die Gruppe den Gedichten und Essays von Charles Bernstein. Aus der Auseinandersetzung mit den Texten des US-Amerikaners entstand der Band „Gedichte und Übersetzen“, der 2015 mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie ausgezeichnet wurde. Er legte den Grundstein zu einer Buchreihe, die das Kollektiv im Wiener Verlag Edition Korrespondenzen herausgibt.

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Sam Zamrik

Sam Zamrik über „An End“ | Christina Rossetti

Das Gedicht „An End“ von Christina Rossetti inspiriert Lyriker Sam Zamrik zu seinem Pathos-Statement.

 

Sam Zamrik: „Pathos. Logos. Ethos. Der Appell an Emotionen blüht in der Lyrik, in der unvergleichlichen Qualität der Ernsthaftigkeit und der erhöhten Spannung hinter den Worten. Die Poesie befreit das Pathos von den Fesseln des Logos und des Ethos, die den Eros seit Aristoteles fesselten und zähmten. Das Pathos erhebt sein Haupt zwischen Schall und Bedeutung; es verbreitet sich über die Zeit und schwingt in der Körperlichkeit des Menschen mit. Der Appell an Emotionen ist mehr als die Beschreibung von Emotionen in gepflegten Worten; er ist vielmehr die Kraft, Emotionen herzuinduzieren. Das Pathos ist einzigartig menschlich, vielleicht sogar bis zu einem Fehler.“

                           

Sam Zamrik, in Damaskus (Syrien) geboren, ist Lyriker, Übersetzer und Musiker. Er studierte Englische Sprache und Literatur an der Universität Damaskus. Seit 2016 lebt er in Deutschland und hat als Stipendiat am Bard College Berlin seinen Bachelor of Arts in Politik und Literatur gemacht. Im Herbst 2021 erscheint seine Lyriksammlung „Sophistry of Survival“ im Hanser Berlin Verlag. Zamrik ist Mitglied der Untergrund-Musikbewegung „New Wave of Syrian Metal“ und Manager und Texter der Metal-Band „Eulen“. 

Das Gedicht:
www.infoplease.com/primary-sources/poetry/christina-rossetti/christina-rossetti-end

Deutsche Interlinear-Übersetzung:

Ein Ende
Liebe, stark wie der Tod, ist tot.
Komm, lass uns sein Bett machen
Unter den sterbenden Blumen:
Eine grüne Sode an seinem Kopf;
Und ein Stein zu seinen Füßen,
Worauf wir sitzen können
In den ruhigen Abendstunden.
Er wurde geboren im Frühjahr,
Und starb vor der Ernte:
Am letzten warmen Sommertag
Hat er uns verlassen; er wäre wohl nicht geblieben
Für die Herbstdämmerung, kalt und grau.
Setzen wir uns an sein Grab und singen
Er ist fortgegangen.
Zu ein paar Akkorden und traurig und tief
Singen wir dies:
Seien unsere Augen gerichtet auf das Gras
Schattenverhüllt im Laufe der Jahre
Während wir an alles denken was war
Vor langer Zeit.

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Kerstin Preiwuß

über „Massaker“ |
Liao Yiwu

Die Lyrikerin Kerstin Preiwuß nimmt das Gedicht „Massaker“ von Liao Yiwu zum Anlass, über Pathos zu sprechen ­– und erforscht dabei in und mit der Sprache, wozu Pathos fähig sein kann.

 

                                      

Kerstin Preiwuß, 1980 in Lübz geboren, aufgewachsen in Plau am See und Rostock, lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Leipzig. Seit dem Wintersemester 2021 hat sie den Lehrstuhl für „Literarische Ästhetik“ am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Die Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin wurde für ihre Arbeiten vielfach ausgezeichnet.

Pathosgalerie

Wir sammeln Pathos! Acht Pathos-Gedichte, sechs Pathos-Splitter und eine grafische Übersetzung waren in den letzten Monaten per Postkarte unterwegs durch die Stadt und haben zum lyrischen Dialog aufgerufen.
Vielen Dank für die zahlreichen Einsendungen Ihrer liebsten Pathos- und Antipathos-Gedichte. Entdecken Sie ausgewählte Gedichte nun in der digitalen Galerie.

Friederike Mayröcker

Mirjam Springer

Daniela Danz

Joana Thurairajah

Orsolya Kalász

Sophie Stroux

Nora Gomringer

Julian Kirschbaum

Berthold Brecht

Lioba Vienenkötter

Berthold Brecht

Nora Enderlein

Hsia Yü

Hong Zhu

Friederike Mayröcker

Mirjam Springer

Friederike Mayröcker

Mirjam Springer

Ausgewählt und eingesandt von:

Mirjam Springer

Vielen Dank!

                                                 

Friederike Mayröcker

 

Masse des Mondes (18.3.1981)

 

es schwirrt

empor und schmilzt

im Baum des Vogels

Lied im frühen

März im kahlen

Auge

 

Quelle: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939–2003. Hrsg. von Marcel Beyer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019.

 

Ausgewählt und eingesandt von:

Joana Thurairajah

Vielen Dank!

                                                 

Daniela Danz

 

Kaskade der Geschichte

 

hier ist
            der Ort
                        wo wir
                                   bleiben

wollen und die Landschaft die wir uns so lange hersagen müssen
bis wir sie inwendig kennen im Traum noch ihre einzelnen Stellen
benennen die Namen der Fluren der Bäume des Bodens der
Häuser die Namen unserer Tiere wir stocken denn was fehlt sind

            unsere
                        eigenen
                                   Namen
                                               das Haus

in dem wir wohnen und ungeübt setzen wir uns an den Tisch
einer probiert ein Lied es misslingt und das Schweigen kriecht
in unsere Schuhe dass wir mutlos vorgeben etwas besorgen
zu müssen jeder in einer anderen Ecke des Hauses bis wir es

                        doch hören
                                   etwas das
                                               uns unser
                                                           Leben erzählt

die Geschichte die irgendwie ins Haus gedrungen ist durch die
Risse im Putz die Spalten zwischen den Dielen die Tentakel des
wilden Weins der ins offene Fenster langt und uns wieder verwebt
mit den ernsten Orten der Kindheit mit allem was Bedeutung hatte

                        wir werden
                                   erzählt bis wir
                                               uns erkennen
                                                           frei bewegen

als Figuren der Legenden all derer die auf diesem kalkigen Boden
ihr Leben vor sich her trieben den Holunder auf die Lippen drückten
bis sie violett waren violette Wirbel vom kurzwelligen Ende des
sichtbaren Lichts einsam hingebungsvoll und genügsam ja und

                                   endlich
                                       beginnen
                                               auch wir
                                                       zu singen

 

Quelle: Daniela Danz: Wildniß. Göttingen: Wallstein 2020.

Ausgewählt und eingesandt von:

Sophie Stroux

Vielen Dank!

                                                 

Orsolya Kalász

 

Joint Attention

 

Glanzvolle Zeit der Neuronen,

wenn in uns wir spiegeln,

was in uns das Schönste ist,

wenn es eine unstillbare Wonne,

sich der vertrackten Macht

der Zärtlichkeit hinzugeben.

Einen Nachmittag lang,

sieben mal sieben Leben zu leben.

Ich muss schon sagen,

ich hatte lange nicht mehr mit einem

so klugen Komplizen zu tun.

Aus Freude über unser Bündnis wächst

meinem Bewusstsein ein Häutchen ,

das mit deiner hingebenden Berührung

zu schwingen beginnt, reißt,

zusammenwächst…

Seine kleine Narben, schau,

sind die Tasten einer Klaviatur,

spiel ruhig das Ostinato,

spiel ohne Zögern die Melodie der Begierde.

 

Quelle: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/joint-attention-7417

Ausgewählt und eingesandt von:

Julian Kirschbaum

Vielen Dank!

                                                 

Nora Gomringer

 

Wie erkläre ich

 

Sind gestorben

In den Himmel gekommen

 

Sind geflogen

Atomisiert in die Lungen

 

Der Unwissenden

Nichtswissenwollenden

 

Haben ihre Kinder

In andere Länder gebracht

 

Oder die Elternasche

Verstreut über die sieben

 

Weltmeere

Die heute im Wellenschlag

 

Im Pottwalbauch

Unsere Sünden fortpflanzen

 

An die Strände

Der Ruhe

 

Quelle: Nora Gomringer: Mein Gedicht fragt nicht lange, Voland & Quist, Dresden 2011.

Ausgewählt und eingesandt von:

Lioba Vienenkötter

Vielen Dank!

                                                 

Berthold Brecht

 

Vom Schwimmen in Seen und Flüssen

 

Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben

Nur in dem Laub der großen Bäume sausen

Muß man in Flüssen liegen oder Teichen

Wie die Gewächse, worin Hechte hausen.

 

Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm

Leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt

Wiegt ihn der kleine Wind vergessen

Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält.

 

Der Himmel bietet mittags große Stille.

Man macht die Augen zu, wenn Schwalben kommen.

Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen

Weiß man: Ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen.

 

Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm

Wir liegen still im Wasser, ganz geeint

Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen

Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint.

 

Wenn man am Abend von dem langen Liegen

Sehr faul wird, so, daß alle Glieder beißen

Muß man das alles, ohne Rücksicht, klatschend

In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen.

 

Am besten ist´s, man hält´s bis Abend aus.

Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt

Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern

Und alle Dinge sind, wie´s ihnen frommt.

 

Natürlich muß man auf dem Rücken liegen

So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen.

Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als

Gehöre man einfach zu Schottermassen.

 

Man soll den Himmel anschauen und so tun

Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.

Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut

Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.

 

Quelle: Bertolt Brecht: Bertolt Brechts Hauspostille. Frankfurt am Main:  Suhrkamp 1999.

Ausgewählt und eingesandt von:

Nora Enderlein

Vielen Dank!

                                                 

Berthold Brecht

 

An die Nachgeborenen

 

1

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

 

Quelle: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
Ausgewählt und eingesandt von:

Mirjam Springer

Vielen Dank!

Hsia Yü

被動

 

她說:/m/

必須很久很久不說話

才發得出來

這非常低的/m/

 

她說/m/

然後不動

不想動

 

那音節撥不動一絲漣漪

在養著青苔

綠灰的湖

 

她說/m/

然後她說/n/

就是不動

 

有人喚她

像水滴在蠟上

她在蠟裡

 

被蠟封住的湖

湖底輕輕晃動

而不動

 

的果凍

她的被動

 

在音槽裡

結成冰/z/

 

如果有人在她的胸脯或耳後

用力呵暖

她就會解凍

掉落

 

像一枚松果

我們就聽到/g/

 

先是被吹動的那層汗毛

有點縮緊

然後熱起來

腫脹

而彎曲

 

而極想被打開被

穿透

那被動

 

無限稠密而可以

收縮

用最少的呼吸

她說:/∫ /

 

不轉頭

亦不張望

 

想降低

再繼續降低

 

Übersetzung aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin

 

Bewegt werden

 

Sie sagt: m

Es bedarf eines langen, langen Schweigens

ehe sie dieses besonders tiefe m

hervorbekommt

 

Sie sagt m

Danach bewegt sie sich nicht

denkt nicht daran, sich zu bewegen

 

Die Silbe kräuselt keine Welle

in einem grünen, grauen Teich

der Moos züchtet

 

Sie sagt m

Danach sagt sie n

und bewegt sich nicht

 

Jemand ruft sie

den Wassertropfen gleich auf Wachs

Sie befindet sich im Wachs

 

Vom Wachs versiegelt der Teich

An seinem Grund ein leichtes Wanken

aber kein Bewegtes

 

Gelee

Ihr Bewegtes

 

ist in dem Silbenbett

gefriert z

 

Wenn jemand an ihrer Brust oder hinter ihrem Ohr

kräftig haucht

kann sie auftauen

fallen

 

Wie ein Tannenzapfen

Wir hörten dann g

 

Zuerst sind es die Körperhärchen

die sich unter dem Atem zusammenziehen

dann erhitzen

schwellen

und krumm

sich sehnen, geöffnet zu werden

durchdrungen zu werden

zu durchdringen

das Bewegte

 

Endlos dicht und mit der Möglichkeit

zu schrumpfen

Mit dem kleinsten Hauch

Sagt sie: ∫

 

Ohne den Kopf zu wenden

auch ohne zu spähen

 

Sie möchte sinken

und wieder sinken

 

 

Quelle: https://www.lyrikline.org/de/uebersetzungen/details/19466/4058

Ausgewählt und eingesandt von:

Mirjam Springer

Vielen Dank!

                                                 

Friederike Mayröcker

 

die Überflutung (13.5.1985)

 

ist das diese Schön-

blindheit : Frühsommerjahre mit

Schwalben, Robinien, diese Über-

flutung?

zusammengeknüllt auf dem Sofa viele

Papiervögel die in den Süden

ziehen ..

geh ich doch nicht am Stab wie einst

steifgefrorener heiliger

Nikolaus, winters, dieses

Maijubilieren, dieses Schmettern und

Frühlingswerk, gilt mir noch,

Spätling ich, und ich sah und siehe,

die Wolke und halbe

Zeit längst vorüber, schlieszlich den

Rhein in seiner strömenden

Wiege

 

Quelle: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939–2003. Hrsg. von Marcel Beyer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019.

Ausgewählt und eingesandt von:

Mirjam Springer

Vielen Dank!

                                                 

Friederike Mayröcker

 

an eine Mohnblume mitten in der Stadt (29.5.1985)

 

aus meinen Köpfen sprieszt

das Feuerwerk der Tränen, der

Flieder rostet, der Liguster

weht, die Camouflage des

Sommers läszt Gewitter ahnen –

Wolfsmilch besamt die Flur, die

Stare fallen, Mücken

flirren im Dorngebüsch, das

abgewelkte Blühen einer

Wolke von erbsengrüner Kirschenfrucht

gekrönt –

samt aufgeprägten kaiserlichen

Doppeladlern – Portraits auf roten Ziegeln – bröckelt

die Friedhofsmauer ab

gestützt nur noch von immergrünen

Efeuranken –

im Aufwind flügelschlagend

steht

raubvogelgleich mein Herz nach Beute äugend

 

Quelle: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939–2003. Hrsg. von Marcel Beyer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2019.

Pathos übersetzen!

Schon im Vorfeld haben sich die Teilnehmenden des Lyriktreffens mit der Übersetzung von Pathos auseinandergesetzt. Die Ergebnisse wurden in dem Live-Workshop „Pathos übersetzen!“ beim Lyrikertreffen 2022 präsentiert. Die gleichnamige Galerie versammelt hier im Nachklang des Lyriktreffens die während der Auseinandersetzung mit dem Thema Pathos und Übersetzung entstandenen Impulse und Statements. Für die tägliche Dosis Poesie!

Michael

Ebmeyer

Olga

Radetzkaja

Dagmara

Kraus

Hannes

Bajohr

Ann

Cotten
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Michael Ebmeyer

Wo ist Chavela Vargas?

Zur Pathos-Ambivalenz bei Rery Maldonado Galarza

Quellen: Rery Maldonado Galarza, Chaosforschung. Gedichte. Deutsch von Michael Ebmeyer, hochroth 2020
Text, Video, Stimme: Michael Ebmeyer / Rery Maldonado Galarza
Schnitt: Christian Filips

                               

Michael Ebmeyer  wurde 1973 in Bonn geboren. Der Schriftsteller und Übersetzer veröffentlicht vor allem Prosa (Romane, Erzählungen, Sachbücher), aber immer mal wieder auch Lyrik – etwa seine Texte für die Gruppe Fön oder seine „Vierzeiler der Woche“ im Online-Kulturmagazin „TITEL“. Unlängst hat er mehrere Lyrikbände lateinamerikanischer Dichter*innen für hochroth Heidelberg übersetzt. Darunter eine Auswahl von Gedichten Humberto Quinos, die unter dem Titel „Jemand anders sein und es nicht wissen“ im Herbst 2021 erscheint.

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Olga Radetzkaja

O reines Grenzland!

Vom Russland-Pathos und Anti-Pathos bei Rilke und Maria Stepanova

Quellen: Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder. Gedichte. Deutsch von Olga Radetzkaja. Berlin: Suhrkamp 2020.
Rainer Maria Rilke: Geschichten vom lieben Gott und anderes: an Grosse f. Kinder erzählt. Berlin: Schuster & Loeffler 1900
Foto: Landpartie mit Rilke, Lou Andreas-Salomé und Spiridon Droschin, Literaturarchiv Marbach / Droschin Museum, Sawidowo
Text und Stimme: Olga Radetzkaja
Schnitt: Christian Filips

                                   

Olga Radetzkaja | Geboren 1965 in Amberg. Studium der Slavistik, Amerikanistik sowie Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Berlin. Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen und Französischen und arbeitet als Redakteurin bei der Zeitschrift „Osteuropa“. Aktuell lebt sie in Berlin. Brücke Berlin Preis 2020.

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Dagmara Kraus

Pietà. Ein Videogedicht.

Quelle: Eine „Pietà“ (ital. „Frömmigkeit“, „Mitleid“) ist ein Typus einer spezifischen Mariendarstellung, auch „Marienklage“ oder „Vesperbild“ genannt. Die trauernde Mutter beweint ihren Sohn, dessen (vom Kreuz abgenommener) Leichnam auf ihrem Schoß liegt oder aufrecht von ihr gestützt wird. Das Videogedicht übersetzt ein Motiv der christlichen Kunst in unsere von kriegerischem Morden gezeichnete Gegenwart.

 

                               

Dagmara Kraus wurde 1981 in Wroclaw (Polen) geboren. Die Lyrikerin lebt in Straßburg und Berlin, übersetzt aus dem Polnischen und Französischen und oszilliert zwischen vielen Sprachtraditionen. Sie spielt offenkundig – in ihren Übersetzungen wie in der Dichtung – mit den Variationen der Pathosempfindlichkeiten zwischen den Sprachen und Kulturen.

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Hannes Bajohr

Kann es programmiertes Pathos geben?

Hannes Bajohr spricht über das Programmieren und Extrahieren von Pathos durch Künstliche Intelligenz.

                            

Hannes Bajohr | Geboren 1984 in Berlin. Studierte Philosophie, deutsche Literatur und Geschichte in Berlin und New York, promovierte über Hans Blumenbergs Sprachphilosophie. Neben seiner akademischen Arbeit übersetzte er unter anderem Kenneth Goldsmith und Judith Shklar aus dem Englischen. Er ist Autor von Prosa, Essays und digitaler Lyrik.

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Ann Cotten

Über den Hallraum von Pathos

Ann Cotten vergleicht Pathos mit der Leitfähigkeit von Gefühlen beim Produzieren und Rezipieren von Tönen.

                       

Ann Cotten | Geboren 1982 in Iowa (USA). Aufgewachsen in Wien. Ihre literarische Arbeit wird nicht nur in der Literaturszene, sondern auch in den Bereichen der Bildenden Kunst und der Theorie geschätzt. Sie lebt in Wien und Berlin. Gert-Jonke-Preis 2021.

Pathosmaschinen

Hannes Bajor

PATHOS  der Langeweile

Pathos übersetzen

Eins steht fest: Pathos hat es schwer in der deutschsprachigen Lyrik. Das Pathoslabor im Rahmen des Lyriktreffens Münster hat die Gründe dafür näher untersucht.

VON ALIDA BREMER UND AURÉLIE MAURIN

Während in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen Literaturen das Pathetische geradezu synonym zum Lyrischen gesehen wird, scheint im Deutschen eine Art Pathosabwehr zu existieren. Neigen deutschsprachige Übersetzerinnen und Übersetzer eher dazu, pathosgeladene Gedichte zurück auf die Erde zu holen? Und werden vermeintlich nüchterne deutschsprachige Gedichte von ihren Übersetzenden im Ton eher angehoben? Solchen Fragen haben sich Hannes Bajohr, Alida Bremer, Ann Cotten, Michael Ebmeyer, Christian Filips, Dagmara Kraus, Olga Radetzkaja und die künstlerische Leitung des Lyrikertreffens, Aurélie Maurin und Ulf Stolterfoht, während eines Pathoslabors im LCB gewidmet. Aurélie Maurin im Gespräch mit Alida Bremer über das Pathos-Projekt beim Lyrikertreffen Münster.

Alida Bremer: Als ich im Vorfeld des diesjährigen Lyrikertreffens in Münster von dem Projekt Pathos erfuhr, war ich davon sehr angetan – noch bevor ich zum Mitmachen eingeladen wurde. Deine Einladung freute und bewegte mich sehr, da ich nicht nur in Münster lebe und arbeite, sondern die Übersetzerin eines Dichters aus Kroatien bin, der das Pathos bewusst als eine resignierte und revoltierende Geste für seine Lyrik gewählt hat. Vor den Kriegen in den Neunzigern war er ein Punker – im Punk ist auch eine Variante des Pathos verborgen. Nach den Kriegen wurde er zu einem melancholischen Lyriker. Ich war aus mehreren Gründen von dem Pathos-Projekt begeistert: Wie häufig bei originellen und guten Ideen fragte ich mich, wieso ich nicht selbst darauf gekommen bin, über die kulturellen Unterschiede nachzudenken, die in Bezug auf das Pathos existieren; außerdem erkannte ich, dass diesem Thema ein großes theoretisches und emotionales Potential innewohnt. Ganz wichtig dabei war mir, dass Deine Hinterfragung des Pathos vor allem auf übersetzerischen Erfahrungen gründet. Übersetzerinnen und Übersetzer übertragen nicht nur Texte, sie haben dank ihrer Kompetenzen einen ganz besonderen Einblick in die parallelen sprachlichen und kulturellen Wirklichkeiten. Deshalb meine erste Frage: Woher diese Idee? Wie bist Du darauf gekommen? Und wie hast Du es geschafft, in einer eher nüchternen und wenig emotionalen Stadt wie Münster so viele Mitstreiter:innen für dieses Thema zu gewinnen?

Aurélie Maurin: Mein Interesse für das Pathos wurde durch Beobachtungen aus der Übersetzungspraxis geweckt. Lange Jahre habe ich die sogenannten VERSschmuggel geleitet, ein Projekt des Hauses für Poesie in Berlin, für das Dichter:innen aus verschiedenen Sprachen eingeladen wurden, einander mithilfe einer Interlinear-Version zu übersetzen und nachzudichten. Dabei fiel mir immer wieder auf, dass bei Übersetzungen ins Deutsche geradezu automatisch Elemente des Pathos herausgefiltert oder vermieden wurden. Und das bei ganz unterschiedlichen Ausgangssprachen. Oft kam es zu einem übersetzerischen Zaudern, zu einer Vorsicht oder sogar zu heftiger Abwehr. Da sich diese Szene immer wiederholt hat – sei es bei Übersetzungen aus dem Spanischen, aus dem Persischen oder aus dem Russischen – lag die Annahme nahe, dass die deutsche Lyrik in den letzten Jahrzehnten eine Pathos-Unverträglichkeit herausgebildet hat. Nichts schien schwieriger über die Grenze der deutschen Sprache zu schmuggeln als pathoshaltige Waren. Ein hochsensitiver Detektor spürte das Pathos bei jedem Boarding auf. Und „Pathos übersetzen“, das war gleichbedeutend mit ironisieren, abdämpfen, runterstimmen, retten, fernhalten. Das Lyriktreffen in Münster, das ich in diesem Jahr zum ersten Mal gemeinsam mit Ulf Stolterfoht geleitet habe, ist ein Seismograf seines Genres. So erschien es mir als idealer Ort, um verschiedene Positionen ins Feld zu führen – und gemeinsam über die (Un)übersetzbarkeit von Pathos, über Idiosynkrasien und positive Formen rhetorischer Überwältigung nachzudenken.

Alida BremerDank einer derartigen Einbeziehung der Kunst des Übersetzens in das Nachdenken über Poesie kann man m. E. deutlich erkennen, dass Übersetzungen, wenn man sie nur ernst genug nimmt, unser Verständnis von Literatur im Allgemeinen und von Lyrik im Besonderen verändern können. Im Vorfeld des Lyrikertreffens fand im März ein Vorbereitungstreffen – ein Pathoslabor – im LCB statt (ich war aus meinem Hotelzimmer in New York und mit einer Zeitdifferenz von 6 Stunden zugeschaltet, aber es hat alles wunderbar geklappt): Kannst Du mehr darüber berichten?

Aurélie Maurin: Vor Ort waren erfahrene Übersetzer:innen, die zum Teil auch selbst Autor:innen sind: Hannes Bajohr, Ann Cotten, Michael Ebmeyer, Dagmara Kraus und Olga Radetzkaja. Projektleiter war der Lyriker Christian Filips, der in seinen Arbeiten den hohen Ton als rhetorisches Mittel nicht scheut. Auch Ulf Stolterfoht und ich waren mit dabei. Wir wollten verschiedene Pathosaffinitäten und Sprachwelten zusammenbringen und auch experimentierfreudige Positionen ins Feld holen. Schon im Vorfeld gab es eine während der Lockdown-Zeit entstandene Website mit einer Pathosgalerie, in der Dichter:innen und Übersetzer:innen ihr schwieriges Verhältnis zum Pathos erkundet haben. In dieser Galerie warf Nora Gomringer eine Frage auf, die uns als Refrain durch das Labor hindurch begleitet hat: „Gibt es die verdammte deutsche Angst vor Pathos?“

Alida BremerUnd gibt es diese Angst wirklich?

Aurélie Maurin: Und wie! Pathos hat den Effekt eines Stoppschilds! Deutschsprachige Kritiker:innen sind sich da erstaunlich einig und schlagen Alarm, sobald sie zu viel Pathos wittern. Pathosfreiheit gilt dagegen als Qualitätsmerkmal. Wenn von Pathos die Rede ist, geht man lieber auf Distanz. So standen unlängst etwa die Gedichte von Amanda Gorman oder auch die der Nobelpreisträgerin Louise Glück unter Pathosverdacht. Ulrike Draesner, ihre Übersetzerin ins Deutsche, musste sich geradezu dafür rechtfertigen, das Pathos von Glücks Gedichten in den Übersetzungen beibehalten zu haben. In unserer Galerie zeigt sie auch, wie man mit Übersetzung die Angst vor Pathos überwinden kann.

Alida Bremer: Mit diesem Thema bewegt man sich an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Gesellschaft, zwischen Poetik und Politik. In einem scheinbar neutralen Raum werden Urteile über künstlerische Werte getroffen, doch vermutlich lauern dahinter historische (Ab)Gründe. Amanda Gorman knüpft an eine Tradition der amerikanischen Dichtung an, etwa an den hymnischen, hohen Ton eines Walt Whitmans. Doch dieser Ton verursacht in der deutschen Lyrikszene Unbehagen. Warum?

Aurélie Maurin: Nicht umsonst reagiert sie mit großem Unbehagen auf dieses Pathos, das oft als zu patriotisch empfunden wird. Durch die deutsche Geschichte gibt es eine politische Dimension des Pathosbegriffs, der ihn diskreditiert. Deutschland wurde nach der Nazizeit eine Pathosphobie in öffentlichen Reden attestiert, in der Politik ist der Pathosverzicht bis heute präsent. Die westdeutsche Kultur scheint sich aus einer Art Entpathetisierung herausgebildet zu haben – eine tabula rasa des Pathos, in der man kollektiver Emotionalität mit Misstrauen begegnete. Pathos wurde gleichgesetzt mit Bathos – das ist der altgriechische Begriff für misslingendes Pathos … Ansonsten wird es nur über Gegenbegriffe wie Ethos, Groteske, Erhabenheit, Antipathos oder Kitsch erfasst … Pathos polarisiert!

Alida Bremer: Was waren die konkreten Gegenstände der Untersuchung im Pathoslabor? Kannst du uns ein paar Beispiele nennen?

Aurélie Maurin: Da wurde ein weiter Fächer aufgespannt! Alle haben aus ihrer konkreten Praxis berichtet. Hannes Bajohr und Ann Cotten haben sich die Frage gestellt, ob es ein programmiertes Pathos geben kann und wie sich Pathos zur künstlichen Intelligenz verhält. Michael Ebmeyer führte anhand Leonard Cohens Adaption „Take this Waltz“ von Federico García Lorcas Gedicht „Pequeño Vals Vienés“ vor, wie durch die Übersetzung in einen anderen Kulturraum Pathos- und Bathos-Effekte generiert werden – das berührte auch Fragen kultureller Aneignung. Olga Radetzkaja hat uns vorgeführt, wie Pathos und Anti-Pathos in Gedichten von Maria Stepanova und Marina Zwetajewa mit der Idee eines russischen Heroismus zusammenhängen. Dagmara Kraus hat uns Beispiele ihrer Übersetzungen der polnischen Dichterin Zuzanna Ginczanka vorgelesen, die einen ganzen Katalog von Pathos-Situationen auffächert. Und Du hast uns in die Welt der melancholischen Engel von Delimir Rešicki eingeführt, den Du als Post-Punk, der die Toten des Jugoslawien-Kriegs beschwört, für den pathosgeladensten Dichter Europas hältst.

Alida Bremer: Ich unterscheide zwischen dem gewollten und als Stilmittel bewusst eingesetztem Pathos, dem ich viel abgewinnen kann, und dem schlechten, da ungewollten und unbewussten, aber dennoch eingesetzten Pathos. Delimir Rešicki ist sich seiner pathetischen Poetik bewusst; im Gedicht „Ethno Zählreim“ spricht er zum Beispiel von „pathetischen gefrorenen Blütenblättern der Wildkirschen“. War er nicht der pathetischste von allen?

Aurélie Maurin: Es gab große Konkurrenz! Das war auch das Faszinierende, wie diese Variationen aus Pathosaffinitäten in einer Reise durch verschiedene politische Situationen und Traditionen mündete, eine endlose Kettenreaktion von Pathos und Antipathos … Die Abwehrreaktion auf Pathos kann sich auch in einer Pathos-Übersteigerung ausdrücken – eine Art Erstverschlimmerung vor der Immunisierung … Pathos wird dann bewusst überladen, um es besser brechen zu können … In unserer Galerie findet sich auch ein schöner Beitrag von Olga Radetzkaja über die Spielarten des Pathos und Anti-Pathos – ein Video über Maria Stepanova, die das zu Kitsch erstarrte Pathos des Geheimnisvollen – u. a. eines Rainer Maria Rilke – aufgreift und ihr Spiel damit treibt …

Alida Bremer: Für mich war es bei diesem Austausch außerordentlich interessant, die anderen Pathos-Traditionen näher kennenzulernen. Da ich in der Zeit der Diskussionen im LCB in den USA war, konnte ich mit der Freiheitsstatue und vielen US-Flaggen vor Augen über das nationbildende Pathos der Amerikaner nachdenken und darüber mit unserer Gruppe diskutieren. Michael Ebmeyer hat seinerzeit das Gedicht „The New Colossus“ der jüdischen amerikanischen Dichterin Emma Lazarus übersetzt, das in das Podest der Freiheitsstatue eingraviert ist. Sowohl das Gedicht wie auch die gelungene Übertragung von Michael sind von diesem amerikanischen Pathos gekennzeichnet, doch wenn man sich das Thema und die Epoche vor Augen hält – die Freiheitsstatue und das Gedicht grüßen die Müden, die Geduckten und die Heimatlosen, die sich nach Freiheit sehnen – dann hat dieses Pathos durchaus seine Berechtigung. Ich war überzeugt, dass wir alle auf der Spur von etwas ganz Großem und Wichtigem sind, aber ich konnte mir eher eine Studie bzw. einen Sammelband mit theoretischen Texten vorstellen als eine Umsetzung auf der Bühne. Und dennoch habt Ihr beide als neue Kurator:innen des Lyrikertreffens Münster Euch entschieden, die Ergebnisse öffentlich im Veranstaltungsformat zu präsentieren. Wie ist es dazu gekommen?

Aurélie Maurin: Von Anfang an wollten wir die Früchte unserer Pathosernte auf dem Lyrikertreffen öffentlich präsentieren – was nicht ausschließen sollte, dass wir die Spurensuche auch in Form einer Publikation fortsetzen. Für die Veranstaltungen war unser Projektleiter Christian Filips federführend, der von dem Befund ausging, dass sich das Verhältnis zum Pathos im deutschsprachigen Diskurs gerade radikal verändert: Das postheroische Zeitalter sei vorbei. Die Pandemie feiere wieder Helden, die Kriegsrhetorik zwinge zu einer Wiederkehr der Pathosrede … Pathosbegeisterung, Pathospolemik und Pathosresilienz stünden neu zu- und gegeneinander und müssten neu diagnostiziert werden. Am Tag nach unserem Pathosworkshop im LCB titelte der Freitag „Benebelt von Pathos“. Es ging natürlich nicht um unsere Gruppe, sondern um eine Diagnose der aktuellen Kriegszeiten. Unsere beiden Präsentationen in Münster fanden ausgerechnet in einem Kino statt, dem Ort, wo man seine Pathoslust noch ungehemmt ausleben darf. Begleitet wurden die Statements und Lesungen von einer Kino-Orgel. Der Kinoprojektor zeigte Pathosformeln aus der Filmgeschichte. Die Analysen poetisch-pathetischer Rhetorik bildeten dazu eine Art nüchternen Gegenpol. Ann Cotten, Olga Radetzkaja und Hannes Bajohr hatten anhand konkreter Textbeispiele Pathosformeln aufgedeckt. Wie erspürt man Pathos-Trigger? Woran sind die Mechanismen der Überempfindlichkeit gegen Pathos in Übersetzungen zu erkennen? Wann greift dieser Pathos-Detektor filternd ein? Solche Fragen wurden konkret greifbar.

Alida Bremer: Lässt sich das Pathos-Problem durch das Übersetzen lösen? Wir übersetzen ja nicht nur aus einer anderen Sprache, sondern auch aus einer anderen Kultur mit ihrem gesamten historischen, sozialen und emotionalen Kontext – auch die Rezeption ist von dem Kontext, in dem sich die Leserinnen und Leser befinden, beeinflusst. Wenn wir davon ausgehen, dass das Pathos vor allem in der deutschen Literatur nicht gerne gesehen wird, was geschieht beim Übersetzen? Wird das Pathos gemieden oder gehen die Übersetzer:innen davon aus, dass durch die Konfrontation mit einem anderen kulturellen Kontext die Abneigung dem Pathos gegenüber verändert wird?

Aurélie Maurin: Genau dieser Frage sind wir in der zweiten Veranstaltung in Münster nachgegangen, an der auch Du teilgenommen hast. Auf dem Podium besprachen Dagmara Kraus, Michael Ebmeyer und Du die Frage der Übersetzbarkeit des Pathos anhand von Text- und Bildbeispielen. Beim Übersetzen ist Pathos immer dann ein starkes Transporthindernis, wenn Referenzen, Anknüpfungen, Äquivalente, Kontexte fehlen. Pathos greift stark auf ein kollektives Gedächtnis zurück und setzt eine Partizipation voraus. Wenn sich da Lücken auftun und es keine Entsprechungen gibt, läuft das Pathos ins Leere. Gute Übersetzungen aber leisten genau diesen Transfer, weil sie die Kontexte in gewisser Weise gleich miterfinden! Übrigens endete die Veranstaltung mit einem vehementen Statement von Dir, welches das Publikum darauf hinwies, wie scheinheilig und hölzern pathetisch die in Deutschland beliebte Formel der Friedensbeschwörung „Nie wieder Krieg“ sei – angesichts der Kriege, die nach dem Zerfall der alten Nachkriegsordnung Europa und seine Umgebung beherrschen. Etwa der Jugoslawien-Krieg, der dabei einfach ausgeblendet wurde. Für Dich war es wichtig zu betonen, dass die deutsche Öffentlichkeit überhaupt nicht merke, wie pathetisch diese Formel „Nie wieder Krieg“ ist.

Alida Bremer: Ja, wenn etwas derart feierlich und hochtrabend ausgedrückt wird, aber faktisch falsch ist, dann ist das für mich ein Beispiel von schlechtem Pathos. Das schlechte Pathos ist unüberlegt, es hört sich wichtig an – und vor allem nimmt es sich nicht als Pathos wahr. Das schlechte Pathos ist für mich also das unreflektierte, unbewusste und ungewollte Pathos. So hat der deutsche Bundeskanzler bei seinem Besuch in Moskau am 15. Februar 2022 gesagt: „Für meine Generation ist ein Krieg in Europa undenkbar geworden, und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.“ Der Satz klang für mich auf eine unangenehme Weise pathetisch. Als jemand aus einem Land, in dem es einen dieser Kriege gab, und zwar völlig unabhängig davon, dass eine deutsche Generation den Krieg als undenkbar imaginierte, empfand ich diesen Satz als problematisch. Diese Art über den Krieg als eine Unmöglichkeit zu sprechen, wird zu einem deutschen selbstbezogenen Wunschdenken, obwohl überall in Deutschland inzwischen Menschen leben, die aus diversen Kriegen nach Deutschland geflüchtet sind. So entsteht eine seltsame Diskrepanz von Erfahrungen und Wahrnehmungen. Das Pathos der alten Formulierung „Nie wieder Krieg“ wirkt in den Ohren der von neueren Kriegen betroffenen Menschen ungewollt ironisch und beinahe zynisch. Doch beim Pathos-Workshop wurde nicht nur die aktuelle politische Lage bzw. die deutsche Vergangenheitsbewältigung, die in einer Verklärung der europäischen Geschichte nach 1945 mündet, nach Pathosformeln untersucht, sondern es wurde auch das Pathos der neuen Medien untersucht: Wie verhält es sich mit dem Pathos der Algorithmen? Sind sie zu Emotionen in der Lage?

Aurélie Maurin: Hannes Bajohr antwortet darauf, dass Pathos nur hinter dem Rücken der Maschinen zu haben sei. Es erhebe sich „als komplexe statistische Abhängigkeit aus genügend umfangreichen Korpora, wie sich etwa Nebel über dem Verwesungsprozess eines Moors, als Ausdünstung toter Materie erhebt.“ Wenn man den Algorithmus Pathos generieren lässt, kommt aber auch eine ganze Menge ans Licht. Auf die Frage, welches Pathos sie kennt, hat die Maschine mit einer langen Liste geantwortet: „Pathos der Langeweile, Pathos der Konstruktion, Pathos der Rasentrimmer, Pathos der Prätention, Pathos der Bohrhämmer, Pathos der Undurchschaubarkeit, Pathos der Schwenkscheiben, Pathos der Vergänglichkeit, Pathos der Heterosexualität, Pathos der Freundschaft …“ bis hin zu Pathos der Sachlichkeit, ein mögliches Synonym für das deutsche Pathos …

Alida Bremer: Und was wäre Dein Lieblingspathos?

Aurélie Maurin: Das Pathos des Stotterns! Oder auch: das Pathos des Papagei … und was Pathos, Papagei und Patti Smith gemeinsam haben, erfahren Sie hier von Hans Thill!!

Aurélie Maurin

Aurélie Maurin

Geboren in Paris, lebt seit 2000 in Berlin als Kuratorin, Literaturübersetzerin und Herausgeberin. 2001 hat sie die Lyrikreihe VERSschmuggel im Wunderhorn Verlag mitbegründet und bis 2017 herausgegeben. Sie leitet das TOLEDO-Programm des Deutschen Übersetzerfonds, für das sie die Reihen Journale, Cities of Translators, Toledo Talks sowie das Lyrikübersetzertreffen JUNIVERS initiierte. 2021 hat sie – zusammen mit Ulf Stolterfoht – die künstlerische Leitung des Lyriktreffens in Münster übernommen. Zuletzt erschienen: Apollo 18, Expeditionen zu Apollinaire, Verlag das Wunderhorn, 2021.

Alida Bremer
Alida Bremer

Geboren in Split, lebt in Münster. Sie promovierte mit einer Arbeit über den postmodernen Kriminalroman (Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane, Königshausen und Neumann 1998). Im Roman Olivas Garten (Eichborn 2013, TB Ullstein 2017) schrieb sie über ihre Familie; ihr Manuskript Träume und Kulissen wurde für den Alfred Döblin Preis 2017 nominiert (Jung und Jung 2021). Als Übersetzerin aus dem Kroatischen und Serbischen bekam sie zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt das Barthold-Heinrich-Brockes-Stipendium (2020). Im Jahr 2018 wurde sie zusammen mit Ivana Sajko mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt, mit Dino Pešut mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis und mit Iva Brdar mit dem Brücke Berlin Theaterpreis ausgezeichnet.

© Foto: Carola Löser