Das Motto „Poesie und Alltag“ wird den Lesungen und Gesprächen beim Lyriktreffen eine gemeinsame Perspektive geben. Der „Alltag“ war lange verschwistert mit dem „Trott“, der Farbe „grau“ und dem Wunsch, ihm „zu entkommen“. Heute aber, unter Krieg und Gewalt, Pandemie, Prekarisierung und ökologischer Krise, wird die schlichte Alltäglichkeit zusehends zum Sehnsuchtshorizont. Damit erklimmt nicht nur die Topfpflanze einen aufsteigenden Ast. Da unsere Alltagspraktiken die Krisen dieses Alltags mit erzeugen, wird die Frage nach neuen Orientierungen dringlicher.
Die Poesie bietet Ansatzpunkte für die anstehende Diskussion, denn sie pflegt zum Alltag ein ebenso gespanntes wie intensives Verhältnis. Einerseits steht sie traditionell dem Sakralen nahe und verhandelt mit Emotionen wie Liebe oder Schmerz gerade jene Empfindungen, die das Unauffällig-Alltägliche durchbrechen. Andererseits schließt uns der genaue poetische Blick die alltäglichen Lebenswirklichkeiten sprachlich auf und hinterfragt sie. Das Lyriktreffen fragt nun, welche Rolle der Poesie im Alltag zukommen kann, und wie die letzten Jahre auf die poetischen Ansätze der Gäste eingewirkt haben.
Mit „Zugewandtheit und Geduld“ (Poesie und Alltag I) beginnen am Freitag die Abendlesungen. Für den Schweizer Franz Dodel ist die Poesie Alltagspraxis. Seit 2002 entsteht in einer täglichen Schreibperformance sein Endlos-Haiku „Nicht bei Trost“ aus dem ihm Zufallenden (nach Franz Dodel). „In unserer Familie ist lieben mehr als geliebt werden / Oder nicht mehr schreiben“ schreibt die slowakische Dichterin Mila Haugová und begleitet doch sich und das tägliche Mit- und Gegeneinander mit poetischem Forschergeist. Die in Duisburg geborene Lütfiye Güzel wiederum definiert salopp: „der alltag / das sind dinge“ und kann womöglich umreißen, wie die Dinge liegen müssen, damit eine Dichterin auch zur Verlegerin der eigenen Poesie wird.
Poesie & Alltag II – „Widerstand“ wendet sich einem Alltag zu, der in Deutschland den meisten unbekannt ist. Seit Russlands großflächigem Angriff auf die Ukraine wird das Denken, Fühlen und Handeln der Ukrainier:innen von der Kriegsgewalt durchbrochen. Die Kulturmittlerin Chrystyna Nazarkewytsch hat seitdem immer wieder beschrieben, was es heißt, das Leben durch diese Unvorstellbarkeit hindurch zu retten; sie wird dies auch an unserem ersten Festivalabend tun. Sie übersetzt und begleitet außerdem die ukrainische Dichterin Kateryna Mihalitsyna. Diese zeigt, was mit dem Alltag geschieht, wenn sich der Wind an ausgefransten Einschusslöchern die Zunge blutig leckt (nach Kateryna Mihalitsyna). Es moderiert die Übersetzerin und Ukraine-Expertin Claudia Dathe.
Poesie & Alltag III spricht am Samstag Abend „Von Fehlstellen und Beharren“. „Dem Nirgendwo fehlt das entsprechende je ne sais quoi“ heißt es in einem Gedicht von Samuel Kramer. Mit ihm, Lubi Barre und Dinçer Güçyeter werden die Fehlstellen sichtbar, die das „Hier“ durchziehen, sobald die Fremdenzimmer näher sind als das Zuhause (nach Dinçer Güçyeter), wenn „kindlich zu sein keine Option“ ist (Lubi Barre) oder aber wenn Wissen und Leben, wie in der Klimakrise, grundsätzlich auseinander fallen. Wie „Denken und Handeln wieder fugen“ (Samuel Kramer) und sich gegen das Beharren beharren lässt, dazu sind drei Autor:innen zu hören, deren Tätigsein sich außerdem aufs Verlegen, Veranstalten, Kuratieren, Philosophieren und den Klimaaktivismus erstreckt.
Mit Poesie & Alltag IV schließlich sucht das Lyriktreffen „Tapetentüren“ und die Bedeutung der Imagination. Der „Umzug in eine neue Sprache“ reißt bei der Autorin und Übersetzerin Alida Bremer „Zäune“ ein, aber was liegt hinter diesen Zäunen? Für den kroatischen Autor Marko Pogačar wird die kleinste Wunde zu einer Öffnung, der sich jahrhundertelang folgen lässt wie einer ausgebreiteten Landkarte (nach Marko Pogačar), doch sie ist auch „das offene Fenster, durch das die Welt hineintritt“. Ausweg oder Einfallstor: Bei Ariane von Graffenried, Schweizer Autorin und Performerin, entsteht erträgliches Leben erst mit der Fähigkeit, sich anderes vorzustellen – doch macht genau dies die Träumerin zu einer „Störenfrieda“, die den Alltag durcheinander bringt.
Ohnehin aber wäre kein Alltag ganz bei sich, durchbrächen ihn nicht Überraschungen. Das Lyriktreffen beantwortet diese Neigung zu beschränkter Planbarkeit mit der Präsenz von Mara Genschel. Unter der Überschrift „Alltag und Einfall“ wird die Autorin und Performerin den Festivaltagen mit ihren „diskrekten Verschiebungen“ eine eigene Taktung geben. Wann genau diese stattfinden, bleibt unbestimmbar. Dass sie jedoch das Lyriktreffen verschiedentlich ins Unerwartbare öffnen werden, ist gewiss.
Poesie und Pathos | 2022
Bis zum Lyriktreffen 2024 sorgten drei digitale Sammlungen für die nötige Dosis Poesie! Es wurde das Verhältnis von Pathos und Lyrik intensiv unter die Lupe genommen. Gemeinsam sind Lyrikerinnen und Lyriker sowie Münsteranerinnen und Münsteraner auf Spurensuche gegangen.
Daraus entstanden ist die Sammlung 10 Takes on Pathos. Zehn Dichterinnen und Dichter, Übersetzerinnen und Übersetzer gaben Statements zu ihrem persönlichen Verhältnis zu Pathos ab. Videobotschaften und Audioaufnahmen sind zu einer pathetischen Bestandsaufnahme herangewachsen. Acht Pathos-Postkarten waren außerdem durch die Stadt unterwegs und haben zum lyrischen Dialog aufgerufen. Eine Auswahl aus den zahlreichen Einsendungen von Lieblings-Pathos- oder Antipathos-Gedichten ist in der Pathosgalerie zu finden. Die Sammlung Pathos übersetzen! gibt Impulse zum Thema Pathos und Übersetzung, die in einem Live-Workshop während des Lyriktreffens 2022 entstanden sind.